Friedhofsbesucherin mit Kopftuch schaut auf Grabstein
Bildrechte: picture alliance/dpa/TASS | Valery Sharifulin

Umstrittener Denker: Grabstätte von Iwan Iljin in Moskau

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Petition: Russische Studenten protestieren gegen Putin-Vordenker

Der russische Präsident nennt den Publizisten Iwan Iljin "Titan" und wird nicht müde, ihn ständig zu zitieren. Doch Studenten an der Moskauer Uni für Geisteswissenschaften halten den Klassiker für "rechtsextrem" und wollen ihn nicht als Namenspatron.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Auf den hoch umstrittenen nationalistischen Autor Iwan Iljin (1883 - 1954), der maßgeblich vom deutschen Philosophen Hegel beeinflusst war und mit seinem ausgeprägten Sendungsbewusstsein in die Geschichte einging, lässt Wladimir Putin nichts kommen. Er nennt den ansonsten weitgehend vergessenen Denker, der bereits 1938 über den "ukrainischen Separatismus" schimpfte und Hitlers "Machtergreifung" als "Erlösung" pries, einen "Titanen" auf Augenhöhe mit Klassikern wie Dostojewski: "Die russische Kultur ist, wie Iwan Iljin es treffend ausdrückte, das hart erkämpfte Kind historischer Katastrophen und nationaler Zusammenbrüche, die unser Land von Zeit zu Zeit heimgesucht haben."

Bei einem Auftritt vor Wirtschaftsfachleuten rühmte Putin den inoffiziellen "Staatsdenker": "Ich habe Iljin gelesen, ich lese ihn immer noch. Ich habe eines seiner Bücher in meinem Regal und von Zeit zu Zeit nehme ich es heraus und lese darin. Das sind alles Menschen, die über Russland nachgedacht haben, über seine Zukunft. Natürlich angepasst an die Zeit, als sie ihre Ideen schufen, schrieben und formulierten, aber dennoch interessiert mich der Verlauf ihrer Gedanken sehr."

"Hat wenig mit fortschrittlichen Werten zu tun"

Das gilt für Studenten der Moskauer Hochschule für Geisteswissenschaften weit weniger. Sie starteten eine Online-Petition, in der Iwan Iljin als "rechtsextrem" geschmäht wurde und verwahrten sich dagegen, dass der Mann als Namensgeber eines "Bildungs- und Forschungsinstituts" herhalten soll: "Im 20. Jahrhundert nahm Iwan Iljin aktiv die Umtriebe des deutschen faschistischen Regimes hin, rechtfertigte Hitlers Verbrechen bei der Konfrontation mit dem Bolschewismus und schrieb über die Notwendigkeit eines russischen Faschismus."

Angesichts der "gesellschaftspolitischen Situation" im heutigen Russland dürfe so ein Publizist nicht mit der Namensgebung für ein Institut gewürdigt werden: "Wir sind davon überzeugt, dass Iljins Philosophieren wenig mit den Werten der fortschrittlichen Menschheit zu tun hat, ebenso wenig wie die faschistische Ideologie, die ein widernatürliches politisches Konstrukt darstellt." Die Studenten kritisieren auch, dass ausgerechnet der rechtsextreme, kremlnahe Philosoph Alexander Dugin zum Leiter der Einrichtung ernannt wurde. Die Petition bekam bereits rund 18.000 Unterschriften [externer Link].

"Namen großer Vorfahren missbraucht"

Mit ihrem Protest, den sie ausdrücklich als "Signal" verstanden wissen wollen, lösten die Studenten eine bemerkenswerte Debatte aus. Der Uni-Präsident sah die "ukrainischen Geheimdienste" am Werk und verwies darauf, dass "interne Vorschriften" jegliche Veröffentlichungen, etwa in Form von Wandzeitungen, untersagten.

Kremlsprecher Dmitri Peskow beteuerte: "Wir wollen uns an dieser Debatte nicht beteiligen. Der Präsident zitiert tatsächlich immer wieder Iljin. Auf jeden Fall halten wir jegliche Beleidigung von Alexander Dugin für inakzeptabel." In der kremlnahen Nachrichtenagentur RIA Nowosti hieß es in einem Kommentar [externer Link] , weder die Linken, noch die Rechten seien das eigentliche Problem, sondern die "Liberalen", die beide Richtungen gegeneinander ausspielen wollten: "Wir können ihre Rolle in der russischen Geschichte unterschiedlich einschätzen, aber wir werden nicht zulassen, dass die Namen unserer großen Vorfahren missbraucht werden, um unser Volk zu spalten und ihm das Recht zu nehmen, den russischen Weg unabhängig zu beschreiten."

An dem besagten Institut würden vor allem künftige Lehrer ausgebildet, hieß es. Jetzt müssten diese Einrichtungen der "liberalen Öffentlichkeit" entrissen werden: "Sie greifen Iljin an, weil sie in ihm einen russischen Nationaldenker sehen, der die Interessen Russlands und des russischen Volkes über alles andere stellt." Bezeichnend, dass sich die rechtsextremen russischen Nationalisten und die Kommunisten die Hände reichen und gemeinsam gegen die "Liberalen" hetzen.

"Verlust der Souveränität" befürchtet

Der prominente Militärblogger Roman Aljechin wollte sich Putins Iljin-Begeisterung dagegen nicht anschließen [externer Link]. Der Mann habe seine Gesinnung zu Lebzeiten je nach Opportunität gewechselt, nur wenige hätten sich bisher für ihn interessiert: "Ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob Iljin als Philosoph, sondern wohl eher als Ideologe betrachtet werden sollte." Aljechin verbreitete die Verschwörungstheorie, vor allem die russischen Oligarchen fänden Gefallen an Iljin, denn der habe einen "dritten Weg" zwischen Faschismus und Kommunismus gepredigt: "Aber das ist ein holpriger Weg, der abermals zu dem führen kann, wo er schon häufiger endete, in unserem Fall zum Verlust der Souveränität."

Der vielfach angegriffene Ultra-Patriot Alexander Dugin schrieb auf seinem Telegram-Kanal, jetzt komme der "Moment der Wahrheit" für Russland, jetzt werde entschieden, was "im Krieg gegen die Zivilisation des Westens" möglich sei und was nicht: "Warum lässt das politische Kontrollsystem solche Internet-Drohnenangriffe zu?" Dugin argwöhnte, der Westen wolle mit der Kritik an Iljin in Russland einen "Bürgerkrieg" entfesseln, kaum dass das Land auf dem "Weg der Einheit" sei. Allerdings musste sich der umtriebige Dugin gefallen lassen, dass findige Blogger Zitate fanden, in denen er selbst Iljin als "rein deutsch" beeinflussten Denker beschimpft hatte, dem "nichts Russisches" anhafte und der deshalb "unberücksichtigt" bleiben könne.

Umbettung der Gebeine 2005

In staatsnahen Medien wird Iwan Iljin derweil als politischer "Hellseher" gefeiert und darauf hingewiesen, dass dessen sterbliche Überreste unter großen äußerem Aufwand 2005 von Paris nach Moskau umgebettet worden waren. Die "spirituelle Verbindung" zu dem Denker sei niemals abgerissen, jubelte Alexander Swjagintsew von der Russischen Akademie der Wissenschaften, der einer der Sargträger war. Er zitierte Iljins Behauptung, der ukrainische "Separatismus" sei ein "künstliches Phänomen", das dem "Ehrgeiz ihrer Führungspersönlichkeiten und internationalen Intrigen" entstamme.

Russische Exil-Politologen urteilten über Putins Begeisterung für Iljin [externer Link]: "Diese Ideen sind rassistischen und faschistischen Theorien entlehnt, die seit den 1920er Jahren in der russischen Emigration verbreitet waren." Dieses Denken einer historisch bedingten russischen Überlegenheit gegenüber dem Westen diene nicht zuletzt der Rechtfertigung des Angriffskriegs. Tatsächlich sei Putin höchst flexibel, wenn es um die praktische Politik gehe, für seine Ideologie gelte das jedoch nicht: "Es ist unwahrscheinlich, dass der Widerstand gegen die vom Kreml propagierten Ideologien heute noch Gestalt annehmen kann – vor dem Hintergrund zunehmender Repression, intensiver Propaganda und der Emigration der prowestlichsten liberalen Gruppen der russischen Bevölkerung."

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