Kein Stress beim Essen Kinder müssen nicht alles probieren

Von: Constanze Alvarez

Stand: 09.01.2024

"Du musst wenigstens probieren! Und halt die Gabel ordentlich!" Eltern wollen am Tisch häufig Regeln durchsetzen, die sie selbst gelernt haben und für richtig halten. Das verdirbt nicht nur die Stimmung beim Essen. Wir erklären, was wirklich wichtig ist.

Hier sitzen gut gelaunte Eltern mit ihren beiden Kindern an einem schön gedeckten Tisch. In der Realität kommt es zwischen Kindern und Eltern am Esstisch oft zu Konflikten. Zeitmangel oder ein übertriebener Erziehungseifer sind häufig der Grund dafür. | Bild: colourbox.com

Gemeinsam Essen: Warum das für Eltern und Kinder so wichtig ist

Ein schön gedeckter Tisch mit leckeren Speisen, fröhlichen Kindern und gut gelaunten Eltern - dieses Bild aus der Margarine- und Marmeladen-Werbung hat wenig mit unserem Alltag zu tun. Trotzdem sehnen sich viele Menschen genau danach: nach einem harmonischen Essen, bei dem sich die Familienmitglieder Zeit füreinander nehmen, das Essen genießen und sich miteinander austauschen.

Zusammen essen, das sei eben ein Urbedürfnis des Menschen, erklärt die Soziologin Eva Barlösius im Gespräch mit Planet Wissen: "Zu allen Zeiten, in allen Gesellschaften wird essen als eine soziale, gemeinschaftliche Situation gestaltet." Das beginne schon mit der Geburt. Der Säugling erlebe das Essen mit jemandem zusammen, wenn er gestillt wird. "Und wenn die Kinder groß werden, achten wir darauf, dass sie alles alleine lernen - alleine auf Toilette gehen, sich alleine anziehen, alleine schlafen - nur beim Essen, da ist es uns wichtig, dass wir ihnen beibringen, dass das Essen etwas Gemeinsames ist."

Zusammen essen verbindet, es macht fröhlicher, es kann auch Stress abpuffern. Außerdem sei es wissenschaftlich erwiesen, dass Kinder gesünder essen, wenn sie mit der Familie essen, erklärt Gesundheitsspychologin Jutta Mata von der Universität Mannheim.

Allerdings berichten auch viele Familien von Stress am Familientisch. Die Hektik im Alltag, vollgeplante Terminkalender, Patch-Work-Konstellationen, aber auch das Gefühl, dass gemeinsame Essen vielleicht nicht so harmonisch sind, wie man sie gerne hätte, haben dazu geführt, dass sich nicht alle Eltern und Kinder gern regelmäßig um den Esstisch versammeln.

In Deutschland essen zwei Drittel der Kinder abends zusammen mit der Familie. Bei den meisten Familien verlagern sich die gemeinsamen Mahlzeiten auf das Wochenende. Immerhin sind Familienmahlzeiten beliebter als noch vor zehn Jahren, das geht aus einer Studie des Deutschen Kinderhilfswerks hervor.

Der Esstisch: Ein Spiegelbild des Familienlebens

Hängt der Haussegen schief, merkt man das spätestens am Tisch. Schweigen sich die Eltern an? Kritteln sie aneinander herum? Oder herrschen sie die Kinder an, sobald ein Schmatzer zu hören ist? Umgekehrt kriegen alle mit, wenn die Stimmung entspannt ist. Dann schmeckt das Essen gleich besser, ein Gefühl der Verbundenheit stellt sich ein, stressige Gedanken rücken in den Hintergrund.

Gemeinsam essen ist eben mehr als die täglich notwendige Nahrungsaufnahme, erklärt Familientherapeutin Christine Ordnung im Interview mit ARD alpha: "Der Esstisch ist ein Spiegelbild des Familienlebens und auch der momentanen Situation." Wie stehen wir gerade zueinander? Was ist bei den anderen los? Was lerne ich von ihnen? Es geht also beim Essen auch immer um Beziehung, um Emotionen und um Werte und Verhaltensmuster, die Eltern verinnerlicht haben und bewusst oder unbewusst an ihre Kinder weitergeben. Oft stehen diese alten Muster uns im Weg und verderben die Stimmung am Tisch. Deshalb lohnt es sich, sie einmal näher zu betrachten.

Eltern und Kinder: Mehr Entspannung beim Essen

"Probieren muss sein!": Warum das die Beziehung zwischen Eltern und Kindern stört

Der Familientisch kann sich schnell zum Schlachtfeld entwickeln. In vielen Familien bricht ein Machtkampf aus, wenn es um das Thema "Probieren" geht. Ein ungleicher Machtkampf, wohlgemerkt, denn die Eltern sitzen am längeren Hebel, "auch wenn sie sich ihren Kindern gegenüber manchmal ohnmächtig fühlen", sagt Familientherapeutin Christine Ordnung.

"Probieren muss sein!", dieser Satz fällt immer noch täglich, während ein Elternteil dem Kind eine Gabel mit Spinat oder Brokkoli vor den Mund hält. Wie viel dieser Glaubenssatz kaputtmacht, hat Christine Ordnung in ihrem Buch Familie am Tisch - Für ein neues Miteinander beim Essen und darüber hinaus beschrieben, das sie zusammen mit dem Journalisten Georg Cadeggianini verfasst hat: "Das Problem ist, dass wir mit der Probierpflicht nicht nur all die gewünschte Offenheit, die Neugier und die Lust am Probieren beim Kind genau nicht erreichen, sondern weit mehr aufs Spiel setzen: die Qualität unserer Beziehung."

Die Probierpflicht, mit Betonung auf Pflicht, belastet gleich beide Seiten. Die Eltern, die ja das Beste für ihre Kinder wollen: dass sie sich gesund ernähren und offen sind für alle möglichen Geschmacksrichtungen, also nicht wählerisch oder picky werden. Und die Kinder, die die Ansprüche ihrer Eltern erfüllen müssen, obwohl sie nicht wollen. "Das steht dann der Beziehung im Weg", erklärt Christine Ordnung im Interview mit ARD alpha. "Dann werde ich fremdgesteuert und mein Kind auch - von mir."

Kinder lernen auch so viel von ihren Eltern - eine Probierpflicht steht da im Weg

Manche Eltern manipulieren ihre Kinder mit Tauschangeboten: Wenn Du das isst, dann bekommst Du auch Nachtisch. Oder sie versuchen, das Essen so zuzubereiten, dass sie bestimmte Zutaten im Gericht "verstecken". Allemal besser ist es, mit den Kindern zu sprechen, rät Christine Ordnung. Zum Beispiel so: "Ich bin eine Person, die kocht gern, die isst gern, und außerdem bin ich eine Mutter, die einfach auch eine gute Mutter sein will. Und ich will am liebsten dir die ganze Geschmacksvielfalt vorleben und ermöglichen. Deswegen werde ich immer mal wieder sagen: Probier doch mal!  Das hätte ich am liebsten, dass du probierst."

Vor allem sollten Eltern mit ihrem Angebot immer vor dem Mund des Kindes haltmachen. "Kein Kind sollte dazu gezwungen werden, etwas zu essen, wozu es im Moment nicht bereit ist", sagt die Familientherapeutin. "Eltern, die darauf bestehen, machen viel kaputt, denn mit dem Geschmack verbindet sich ein Erlebnis, das unangenehm war."

Hilfreich sei auch, genauer hinzuschauen: Wozu sagt mein Kind gerade Nein? Zur Pflicht? Oder zu den Speisen? Ist es wirklich so schlimm, wenn es gerade ausschließlich Nudeln isst und zum Frühstück Müsli? Vielleicht ist es einfach zufrieden damit.

Eltern, denen es schwerfällt, diese einfache Tatsache zu akzeptieren, sollten versuchen, in sich hineinzuhören: Was kränkt mich? Fühle ich mich zurückgewiesen als Koch oder Köchin? Oder habe ich gerade das Gefühl, ich versage gerade bei meiner elterlichen Pflicht? Bei Letzterem hilft es, ein wenig locker zu lassen, den Erziehungseifer zu drosseln und darauf zu vertrauen, dass Kinder auch so eine Menge von uns lernen. Einfach, indem sie uns beim Essen erleben.

Zwänge am Tisch: Warum sie überflüssig sind

"Etwas probieren zu müssen, bedeutet aber in letzter Konsequenz, in der Familie eine Variante des Dschungelcamps einzuführen, bei dem Menschen irgendwelche Sachen in den Mund stecken müssen, ohne es zu wollen. Nur, um zu gefallen."

Christine Ordnung und Georg Cadeggianini in ihrem Buch `Familie am Tisch´

"Setz dich richtig hin!": Ständige Kritik verdirbt Kindern (und auch Eltern) den Spaß am Essen

"Nimm den Ellenbogen vom Tisch!", "Kannst du bitte beim Essen den Arm heben?", "Wie hältst Du denn die Gabel?" - solche Ermahnungen verderben schnell mal die Stimmung, auch wenn sie gut gemeint sind. Niemand wird gerne ständig kritisiert. Drehen die Kinder mal den Spieß um und rufen: "Du hast das Messer abgeschleckt!" merkt man das als Erwachsener sofort, wie unangenehm das sein kann. Man fühlt sich ertappt und vor allem kontrolliert - wie nervig!

Manieren sind trotzdem wünschenswert. Was also tun? Auch hier empfiehlt Familientherapeutin Christine Ordnung, mit den Kindern und dem Partner immer mal wieder das Gespräch zu suchen. Nicht am Tisch, wenn die Situation eskaliert ist und die Emotionen hochkochen, sondern in einem ruhigen Moment. Zum Beispiel so: "Ich habe ein Anliegen, und das betrifft die Art, wie ich esse, wie ihr esst. Und mir ist daran gelegen, dass, ihr euch sicher fühlt, wenn ihr irgendwo anders zu Gast seid. Und ich bin auch ein bisschen eigennützig: Ich will gern meinen Job machen und euch das vermitteln. Aber wie kann ich es machen, damit ich euch nicht den Appetit oder das Essen verderbe?"

Generell sei es hilfreich, sich immer mal wieder mit der Familie auszutauschen. Über die Art wie man die Mahlzeiten erlebt. Eltern, die sich selbst als streng oder überkritisch empfinden, könnten beispielsweise fragen: "Gibt es etwas, was euch lästig ist?". Oder: "Ich denke, ich kritisiere viel, ist das so?" Solche Gespräche können Überraschendes zu Tage fördern.
Etwa, dass die Kritik am Ellenbogen dem Kind viel weniger zusetzt als der häufige Streit zwischen den Eltern.

"Heute mal kein Ketchup!": Warum "Nein" sagen manchmal notwendig ist

In bestimmten Situationen scheuen sich viele Eltern davor, klar "nein" zu sagen. Etwa wenn ein Kind unbedingt Ketchup zu allem essen will oder jeden Tag Toast statt Vollkornbrot verlangt. Tatsache ist: "Nein" sagen kann oft aufreibende Machtkämpfe verhindern.

Durch ein freundlich ausgesprochenes "Nein" beziehen wir als Eltern eine klare Position, daran können sich unsere Kinder orientieren, das gibt ihnen Halt. Wer schön gekocht hat und keinen Ketchup auf dem Tisch haben will, soll es auch sagen und sich dann auch daran halten, rät Christine Ordnung. Beispielsweise so: "Das stiehlt meinem Essen die Show, das will ich heute nicht." Damit ändere sich die Zielrichtung: Nicht das Kind wird kritisiert, weil es "immer" Ketchup isst. Der Erwachsene spricht von sich und seinem Wunsch.

Wenn die Kinder sich dann beschweren und die Eltern unmöglich finden, müssen Erwachsene das aushalten. Das sei viel besser, als die Ketchupflasche am Ende doch auf den Tisch zu stellen. Dann gingen die Konflikte weiter, erklärt die Familientherapeutin: "Wieviel nehmen die Kinder denn jetzt? Das reicht, nicht so viel! Und schon bin ich wieder im Stress." Und die gute Stimmung ist dahin.

Konflikte am Tisch: Was Eltern und Kinder dabei lernen können

Manchmal gibt es doch Streit am Tisch. Die Geschwister kriegen sich in die Haare, weil einer mehr Pudding erwischt hat als der andere. Die Eltern sind müde und gestresst von der Arbeit. Es ist laut und unruhig am Tisch, der Geduldsfaden reißt, einer haut auf den Tisch, oder rennt türenknallend aus dem Raum.

Das ist völlig normal und auch in Ordnung so. "Konflikte sind genauso wichtig wie harmonische Momente", erklärt Familientherapeutin Christine Ordnung. Ohne Konflikte würden wir uns nicht weiterentwickeln. Erst die Reibung mit anderen hilft uns, herauszufinden, wer wir und wer die anderen sind.

Der Familientisch bietet täglich die Möglichkeit, sich in der Auseinandersetzung mit anderen zu üben. Denn in den meisten Fällen ist die Familie ein sicherer Ort. "Da darf ich wütend werden und fliege nicht raus", sagt Christine Ordnung. Kinder lernen, mit Konflikten umzugehen. Und Erwachsene bekommen die Chance, mit ihren Kindern weiter zu wachsen, alte Muster oder Verhaltensweisen zu entdecken, die ihnen in der eigenen Kindheit antrainiert wurden, und die sie gerne loswerden würden.

Im besten Fall erkennen sie, dass es häufig reicht, den Kindern die eigenen Werte einfach vorzuleben. Christine Ordnung drückt es so aus: "Ich muss nicht so viel erziehen, wie ich glaube, erziehen zu müssen." Diese Erkenntnis reicht weit über den Esstisch hinaus und macht Eltern das Leben leichter.

Essen mit Kindern: Quellen, Sendungen und andere Infos