Randalierer belagern Terminal-Eingang
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Antisemitischer Mob am Flughafen Machatschkala

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"Viele Regionen könnten explodieren": Pogrom schockiert Russland

Unerhörte Gewaltszenen in der Kaukasus-Region Dagestan lösten in Russland eine kontroverse Debatte über Antisemitismus aus. Propagandisten fürchten eine "weltweite Schande", andere eine Destabilisierung des Landes von seinen Rändern her.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Es wäre eine weltweite Schande für Russland, wenn das einzige Land, in dem es zu einem echten antijüdischen Pogrom kommt und Juden tatsächlich zu Tode kommen, Russland ist", so der kremlnahe Politologe Sergej Markow, nachdem schockierende Fernsehbilder aus der Region Dagestan kamen. Am dortigen Flughafen Machatschkala sollen antisemitische Randalierer versucht haben, ein Flugzeug zu stürmen, in dem sie jüdische Passagiere vermuteten. Auch das örtliche "Flamingo"-Hotel soll Zimmer für Zimmer nach angeblich dort eingemieteten Juden durchsucht worden sein, melden russische Medien. Die örtlichen Behörden waren anscheinend entweder machtlos oder duldeten das Pogrom, jedenfalls sind die Videos in diversen Blogs furchteinflößend.

"Überhaupt nicht von außen inspiriert"

Markow sprach von einer "Prüfung" Russlands auf antisemitische Ausschreitungen: "Wenn es in Russland antijüdische Pogrome gäbe, würden die Worte des russischen Außenministeriums wie eine leere Phrase klingen." Aus dem Munde eines fernsehbekannten Kreml-Propagandisten klingt das einigermaßen alarmierend. Natürlich vergingen nur wenige Stunden, bis Leute wie Markow ohne jeden Beleg verbreiteten, das Pogrom sei aus dem Ausland gesteuert, konkret vom ukrainischen Geheimdienst. Allerlei Verschwörungstheorien ließen nicht lange auf sich warten: "Protestveranstaltungen sind überall und immer nur mit der Unterstützung zumindest eines Teils der lokalen Eliten möglich." Möglicherweise sei vor Ort ein Machtkampf im Gange.

Der staatsnahe Politologe und Propagandist Georgi Bovt meinte: "Im Netz kursieren Spekulationen, dass das antisemitische Pogrom in Dagestan kein Zufall sei. Und es soll überhaupt nicht von außen inspiriert sein. Möglicherweise besteht ein Zusammenhang mit den Plänen der Bundeszentrale, in naher Zukunft eine große Anti-Korruptions-Säuberungsaktion in der Republik zu organisieren. Die ersten Festnahmen hätten bereits stattgefunden und es wurde mit einer großen Razzia durch Polizeibeamte aus Moskau gerechnet. Aber jetzt wird es nicht dazu kommen. Generell werden sie jetzt darauf achten, Dagestan nicht anzufassen." Vermutlich werde die Region jetzt so behutsam wie eine "Kristallvase" behandelt: "Und sie bekommen natürlich mehr Geld."

"Explosiver sozialer Hintergrund"

In einem der größten Telegramm-Blogs mit 320.000 Abonnenten war zu lesen: "Die Quelle der Unzufriedenheit unter den einfachen Bürgern ist die groß angelegte Korruption, auch an der Basis, seitens Beamter und Vertreter von Ministerien. All das verstärkt das Ungerechtigkeitsgefühl der Menschen, führt zu erhöhten sozialen Spannungen und schafft einen möglicherweise durchaus explosiven sozialen Hintergrund." Die Situation habe bereits die Bundesebene erreicht: "Mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, auch für Akteure der Gegenelite, die beschlossen haben, mit der explosiven national-konfessionellen Mischung zu spielen."

Der russische Anwalt Alexej Prianischnikow kam zum Schluss, dass die Ausschreitungen ohne den regierungsamtlich geförderten Antisemitismus nicht möglich gewesen wären: "Die Schuld für die Unruhen auf äußere Kräfte abzuwälzen, scheint ein Ausdruck der mangelnden Kontrolle über das Geschehen im Land zu sein."

"Internet merkt sich alles"

Exil-Politologe Abbas Galljamow (90.000 Fans) vertrat die Ansicht, Antisemitismus sei "in der Tat für viele Muslime charakteristisch", insbesondere für die weniger gut Gebildeten: "Außerdem scheint die staatliche Propaganda grünes Licht gegeben zu haben: Hamas, sagen sie, sei gut, und Israel sei der Feind. Angesichts der allgemeinen Hysterie des machtorientierten Teils der Gesellschaft ist passiert, was passieren musste. Mit den Folgen werden die Dagestaner noch lange zu kämpfen haben. Das Internet merkt sich alles. Das Putin-Regime wird irgendwann fallen, dann wird in ganz Russland ein Investitionsschub einsetzen und sowohl die Investoren, als auch die Touristen – zumindest diejenigen, die freundlich gesinnt sind – werden versuchen, Dagestan zu meiden, da sie solche Wilden dort haben, sei Allah mit ihnen."

"Beispielloses Ausmaß und absolut untypisch"

Der dagestanische Regionspräsident und russische Offizier Sergej Melikow schimpfte, die gewaltbereiten Protestierer hätten den russischen Frontsoldaten einen "Dolch in den Rücken" gerammt. Die Vorgänge seien "ungeheuerlich" und würden geahndet: "Es zeugt nicht von Mut, wenn Menschenmengen auf unbewaffnete Menschen losgehen, die nichts Verbotenes getan haben. Es ist macht niemandem Ehre, Fremde zu beschimpfen, in ihre Taschen zu greifen und zu versuchen, ihre Pässe zu überprüfen! Es stecken keine guten Absichten dahinter, gezielt Frauen mit Kindern anzusprechen, die sich im Ausland in Behandlung befanden." Ein Hinweis darauf, dass in dem Flugzeug Dagestaner gewesen sein sollen, die in Israel medizinische Hilfe beansprucht haben sollen.

Aus dem russisch-jüdischen Kongress hieß es in einem Aufruf: "Wir glauben, dass das, was in dieser Region geschehen ist, von beispiellosem Ausmaß und absolut untypisch ist, sowohl für den Nordkaukasus als auch für das moderne Russland. Solche Ereignisse sind sicherlich gefährlich, weil sie die interreligiöse und interethnische Harmonie gefährden und unkontrollierbare tragische Folgen haben können."

"Vergessen Sie das Geld"

"Ich hatte keinen Zweifel daran, dass sie nach den Ukrainern anfangen würden, Juden zu hassen. Als ich jüdischen Freunden das erzählte, glaubten sie mir nicht", schrieb Publizist Konstantin Kalaschew. Er und weitere russische Beobachter fürchten einen massiven Ansehensverlust des ganzen Landes, vor allem jedoch der abgelegenen Kaukasus-Region: "Milliarden wurden in die Entwicklung des Tourismus in Dagestan investiert. Im Jahr 2023 erhielt Dagestan fast 570 Millionen Rubel [5,7 Millionen Euro] aus dem russischen Haushalt für die Tourismusentwicklung. Vergessen Sie dieses Geld."

Unruhen, wie sie jetzt in Dagestan ausbrachen, sind für das Putin-Regime enorm gefährlich, gilt der Kaukasus wegen der dortigen muslimischen Bevölkerung doch als innenpolitisches Pulverfass. Einer der Polit-Blogger gibt sich sehr beunruhigt, was die Stabilität betrifft: "Am Beispiel von Dagestan haben wir heute gesehen, dass die Sicherheitskräfte sofort abtauchen, wenn eine Menge entschlossener Männer auf die Straße geht. Es geht hier nicht darum, Intellektuelle mit Brillen zu schikanieren. Und es wurde auch klar: Wenn in Russland etwas beginnt, dann wieder, wie während der Perestroika, von den Randbereichen des Landes aus. So ist es heute." Auch der Niedergang der Sowjetunion sei von Aufständen in Zentralasien und im Kaukasus ausgegangen.

"Behörden schüren antijüdische Hysterie"

"Der Machtverfall hat leider schnelle und traurige Folgen für das ganze Land", urteilt ein weiterer Kommentator mit 40.000 Fans, der beim Kreml eine Art Schizophrenie diagnostiziert: "Es ist bemerkenswert, dass die Behörden, während sie in den Staatsmedien eine massenhafte antijüdische Hysterie schüren , nicht davor zurückschrecken, 'äußere Feinde Russlands' für die Folgen verantwortlich zu machen." Der Publizist fragte sich, ob Dagestan eine Region Russlands oder ob es nicht eher umgekehrt sei: "Wie sich herausstellte, kann man in Russland einfach einen Flughafen übernehmen. Genauer gesagt in Dagestan. Die wütende Menge riss einfach die Zäune nieder und stürmte auf der Suche nach Juden in das Flughafengebäude. Mitarbeiter verstecken sich in Büroräumen, Sicherheitskräfte versuchen, die Ordnung wiederherzustellen."

Viele Russen verweisen aus gegebenem Anlass auf das aggressive Treiben des tschetschenische Machthabers Ramsan Kadyrow, der im Kaukasus ein Eigenleben entfaltet hat, das nicht wenige ängstigt. So dekorierte er seinen eigenen Sohn mit Orden, nachdem dieser einen Häftling geschlagen hatte, der wegen "Koran-Schändung" angeklagt ist. Selbstredend verbreitete Kadyrow wüste Beschimpfungen gegen Israel: "Die explosive Mischung aus Erdogan und Kadyrow wird in Flammen aufgehen", heißt es bei einem der Beobachter.

"Erinnert mich an Prigoschins Marsch"

Publizist Igor Skurlatow, ebenfalls dem Kreml eng verbunden, zetert: "Polizei und Behörden sind untätig. Ein unkontrollierbarer Aufruhr ist offensichtlich. Die nächste Aktion wird die Machtergreifung in Dagestan sein. Ist das wirklich nicht klar? Wie bitte? Erinnert mich an Prigoschins 'Marsch'. Die gleiche Hilflosigkeit bei der Unterbindung illegaler Aktivitäten. Und nicht nur der Kaukasus. Nichts schwächt den Staat mehr als die Unentschlossenheit der Zentralbehörden."

Russlands Führung stecke jetzt in einem "semantischen Dilemma", analysierte ein weiterer Blogger, der darauf anspielte, dass Putin ständig behauptet, in Kiew seien "Nazis" an der Macht: "Es stellt sich heraus, dass Antisemiten gegen die Nazis kämpfen. Und das macht das Bild widersprüchlich und mindert seinen Wert erheblich." Anscheinend wolle der Kreml alles vermeiden, was seinen Gefolgsmann Kadyrow in irgendeiner Weise verletzen könnte. Mit Blick auf die potentiell gefährliche innenpolitische Rolle der Muslime Zentralasiens heißt es: "Es ist dem Kreml egal, was andere religiöse und nationale Schichten Russlands darüber denken, denn der Fokus liegt generell auf Migranten und Muslimen."

"Mittelalterliche Fremdenfeindlichkeit"

Top-Bloggerin Xenija Sobtschak, Tochter des früheren Bürgermeisters von St Petersburg, der Putins politischer Ziehvater gewesen sein soll, wandte sich direkt an die Kreml-Verantwortlichen: "Bis der Staat und die Verantwortlichen für die Propaganda im Fernsehen kapieren, dass man den Hass der Menschen in keiner Form schüren darf, weil er immer unerwartet und schrecklich ausbricht, werden wir uns weiter in Richtung mittelalterlicher Fremdenfeindlichkeit bewegen. Ich schäme mich, wenn ich im 21. Jahrhundert wieder höre, dass jemand nach 'Juden' sucht, die er verprügeln kann. Entfernt diejenigen, die Hass säen! Bringen Sie die normale Diskussionskultur in die Medien zurück. Dann können Ihre Feinde auch nichts manipulieren." Allerdings ließ es sich auch Sobtschak nicht nehmen, "ausländische Agenten" zu beschuldigen, das Pogrom mit verursacht zu haben.

Ob das vom Kreml gesteuerte Fernsehen wirklich ausschlaggebend war für die Hass-Welle in Dagestan, daran wurde durchaus gezweifelt: "Diese Öffentlichkeit nährt sich von halb im Untergrund lebenden Hasspredigern, islamistischen Bloggern und anderen Martial Arts-Kämpfern. Deren Rolle ist sowohl aufrichtiger als auch ernstzunehmender", urteilte Blogger Wadim Schumilin und kritisierte damit die dominierende Rolle der Netzwelt gegenüber allen klassischen Medien.

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