Porträt des Politikers
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Russischer Verteidigungsminister Sergej Schoigu

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"Probleme vertuschen ist kriminell": Fehlschläge empören Russen

Während Putin beschwichtigt und verspricht, dass sich die Lage an der Front "mit Sicherheit" nicht verschlechtert, zeigen sich Experten und Soldaten schockiert von ukrainischen Vorstößen: "Über Erfolge unsererseits brauchen wir nicht zu sprechen."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Haben die russischen Generäle womöglich doch zu wenig Carl von Clausewitz gelesen, den berühmten preußischen Kriegstheoretiker? Der schrieb im 11. Kapitel seines Klassikers "Vom Kriege" wörtlich: "Die beste Strategie ist, immer recht stark zu sein, erstens überhaupt und zweitens auf dem entscheidenden Punkt. Daher gibt es außer der Anstrengung, welche die [Streit-]Kräfte schafft, und die nicht vom Feldherrn ausgeht, kein höheres und einfacheres Gesetz für die Strategie, als das: Seine Kräfte zusammenzuhalten." Genau das hätten Putins Truppen nicht beherzigt, urteilt der russische Blogger Roman Aljechin. Er kommt angesichts der seiner Meinung nach desolaten Lage an der Front zum Fazit: "Wenn Kommandeure die Kriegstheorie studieren würden, würden wir viel weniger dumme und manchmal äußerst kriminelle Befehle sehen." Es helfe nicht weiter, darauf zu hoffen, dass die ukrainischen Truppen "durch Zufall" geschwächt würden, so der Blogger. Vielmehr müsse Russland den Gegner "durch Können" in den Griff bekommen.

Frontverlauf "nicht ganz klar"

Anlass für die düstere Bestandsaufnahme: Ein russischer Großangriff auf die ukrainische Stadt Awdijiwka brachte offenkundig außer massiven eigenen Verlusten kaum oder gar keine Gebietsgewinne, erstmals setzte die Ukraine ballistische ATACMS-Raketen mit einer Reichweite von 165 Kilometern ein, und ihr scheint es gelungen zu sein, einen Brückenkopf am linken Ufer des Dnjepr zu errichten. Wie auch immer die militärische Lage tatsächlich ist, russische Fachleute geben sich ungewöhnlich pessimistisch. So sei momentan "nicht ganz klar", was am Dnjepr wirklich los ist, heißt es im Portal "Topwar", eine Umschreibung für den sprichwörtlichen "Nebel des Krieges", in dem der genaue Frontverlauf verschwindet.

Präsident Putin hatte nach seinem jüngsten Besuch in Peking versichert, dass Russland alle Angriffe "natürlich abwehren" könne, auch diejenigen mit ATACMS-Raketen. Er stritt ab, dass die Waffen irgendeinen Einfluss auf das Kriegsgeschehen haben könnten, das sei "mit Sicherheit" unmöglich. Doch Putins offenkundige Leidenschaftlichkeit, die auf Nervosität oder mindestens emotionale Erregung schließen ließ, sorgte bei russischen Beobachtern für erhebliches Aufsehen.

"Sie schonen dadurch Ihre Nerven"

Der russische Publizist und "Nationalpatriot" Alexej Schiwow zeigte sich wenig begeistert: "Abwiegelnde Äußerungen russischer Politiker zeigen dem Feind, dass das Überschreiten der 'rot gepunkteten Linien' schmerzlos ist. Kein einziges amerikanisches Aufklärungsflugzeug ist abgestürzt, keine einzige Gaspipeline ist explodiert, kein einziger Zerstörer im Mittelmeer ist wegen einer Mine unbekannter Herkunft gesunken." Frustriert bemerkt Schiwow, dass die Ukraine einen "überwältigenden Vorsprung bei der Aufklärung" habe: "Sie wählen gekonnt Angriffsorte aus, an denen es am einfachsten ist, zu landen und Fuß zu fassen und am schwierigsten zu verteidigen."

Bezeichnend ist Schiwows Anmerkung, Putin werde sich von niemandem in seinem Furor bremsen lassen: "Ich habe zu Beginn der Spezialoperation einmal alle gewarnt, dass der Präsident unser Souverän ist. Er begann die Spezialoperation nach Gutdünken. Wenn er es für notwendig hält, wird er sie beenden. Mit den Ergebnissen, die IHM passen. Die öffentliche Meinung wird der letzte Faktor sein, den der Präsident dabei berücksichtigt. Das ist weder gut noch schlecht. Das ist die Ära Putins. Ich habe mich schon vor langer Zeit mit dieser Tatsache abgefunden und rate jedem anderen dazu. Sie schonen dadurch Ihre Nerven."

"Es war kein anderes Ergebnis zu erwarten"

Inzwischen mehren sich solche pessimistischen Kommentare. Von der Front bei Awdijiwka heißt es in einem Blog: "Es verbietet sich, über Erfolge auf unserer Seite zu sprechen. Der gesamte Kriegsschauplatz besteht aus vier Waldstreifen. Wenn es uns gelingt, den Feind aus seiner Verteidigungslinie zu vertreiben, zerstören sie mit Artillerie und Panzern alle Schützengräben vollständig. Nach einem solchen Beschuss wird es unmöglich, diese Position zu halten. Das Einzige, was im Moment erreicht wurde, ist, die Stellungen der ukrainischen Streitkräfte von unseren wegzubewegen und die Grauzone zu vergrößern." Das allerdings sei die "erlittenen Verluste keineswegs wert". Die Ukraine sei klar überlegen: "Ehrlich gesagt wurde der vom Feind am stärksten befestigte Frontabschnitt [für die Offensive] ausgewählt, und es war kein anderes Ergebnis zu erwarten."

Die Fortschritte seien "gering", behauptet ein weiterer russischer Frontkämpfer, der am Dnjepr stationiert ist. Die Ukraine optimiere ihr Vorgehen, auf russischer Seite fehle es an Luftangriffskapazitäten. Der kremlnahe Politologe Sergej Markow jammerte: "Die traurige Realität in Zahlen. Auf dem Militärflugplatz Berdjansk gibt es nach verschiedenen Schätzungen 5 bis 9 verbrannte Flugobjekte. Und dabei soll es sich um Kampfhubschrauber handeln. Der Feind ist listig und heimtückisch. Unerwartet für alle transportierte er heimlich ATACMS-Raketen. Er hat uns nicht gewarnt. Und die ukrainischen Streitkräfte trafen unerwartet Hubschrauber. Es hat niemand angekündigt. Niemand hat damit gerechnet."

"Jeder Unterstand ist billiger als ein Auto"

Der Blogger Andrej Mewedew (170.000 Fans), nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen russischen Ex-Präsidenten, spottete, der Krieg sei kein Fußballmatch, bei dem sich Fehler mit einem neuen Spielaufbau ausbügeln ließen. Wie viele andere kritisierte er, dass die russische Armee nicht in der Lage sei, ihre Flugplätze ausreichend zu sichern: "Es ist wichtig zu verstehen, dass der Ka-52-Hubschrauber bis zu einer Milliarde Rubel kostet [umgerechnet etwa 10 Millionen Euro]. Jeder Unterstand wird immer noch billiger sein als ein Auto. Dabei geht es aber nicht in erster Linie um Geld. Jedes außer Gefecht gesetzte Fahrzeug verringert zum aktuellen Zeitpunkt die Kampfkraft. In dem Moment, in dem der Feind erneut angreift, werden umso mehr Menschen in der Verteidigung sterben, je weniger Kampfkraft vorhanden ist." Für größere Schutzmaßnahmen oder den Bau von Attrappen sei es zu spät, aber mindestens "Zelt-Hangars" müssten jetzt errichtet werden.

Propagandist hofft auf "Sieg nach Punkten"

Sogar der TV-Propagandist Alexander Sladkow gab sich bemerkenswert demütig: "Es gibt Fortschritte unserer Artillerieaktivitäten in Richtung Awdijiwka, aber ich bete zu Gott, dass der Befehl 'Um jeden Preis nehmen' nicht ertönt; das brauchen wir in Russland nicht. Wir haben viele geeignete Männer, aber es lohnt sich nicht, sie dafür zu verschwenden. Es ist besser, das Leben aller gegen eine Wagenladung TNT einzutauschen. Die wird zuverlässiger funktionieren." Die Nachricht, dass die Ukraine einen Brückenkopf am linken Dnjepr-Ufer errichtet habe, nannte Sladkow "alarmierend", sie habe die Blogs förmlich "erschüttert": "Als ruhig kann man die Lage nicht bezeichnen."

Sladkow verglich das russische Vorgehen mit einem Boxkampf und verwies darauf, dass seiner Erfahrung nach ein Knockout-Schlag nur am Anfang eines Krieges mit "sofortigem Zuschlagen" gelingen könne, jetzt sei allenfalls ein "Sieg nach Punkten" möglich: "Und so geht die militärische Sonderoperation weiter. Ich denke, es besteht kein Grund zur Eile."

"Naivität unserer Politiker ist erstaunlich"

Die Hoffnung, die Lage im Nahen Osten werde Amerikas Aufmerksamkeit von der Ukraine ablenken, sei trügerisch, so die Mehrzahl der russischen Blogger. Der Westen werde seine Militärhilfe wohl nicht nennenswert verringern: "Die Naivität unserer Politiker und Propagandisten ist einfach erstaunlich. Sie bestehen unermüdlich darauf, dass der Westen es leid sei, der Ukraine zu helfen, aber als Reaktion darauf will Biden den US-Kongress um 60 Milliarden Dollar bitten, um die Ukraine zu unterstützen! Und das ist nur Hilfe von den Vereinigten Staaten, dann ist da noch die EU." Es könne durchaus sein, dass der Westen das russische Militärbudget übertreffe: "ATACMS ist eine vierzig Jahre alte Waffe, aber unsere Luftverteidigung, die nichts Vergleichbares besitzt, kann damit nicht umgehen."

"Das führt zu Folgefehlern"

Deutlich härter geht ein weiterer russischer Beobachter mit der Elite ins Gericht: "Es scheint ein wenig seltsam, offenen Verrat als Naivität zu bezeichnen. Selbst wenn man bedenkt, dass es unter den 'Politikern' und 'Propagandisten' offene und unverbesserliche Idioten gibt, die nicht kapieren, wie die beiden 'Wowas' [Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj] ihre 'Lehen' zynisch entmilitarisieren ohne etwas grundlegend Neues zu schaffen – das sieht nicht nach Naivität aus. Die Anzahl derart dummer Leute ist winzig."

Für Satire und Sarkasmus ist bei russischen Z-Bloggern viel Platz. So heißt es bei Wladimir Romanow: "Wir verringern die Bürokratie, vereinfachen den Dokumentenverkehr und alle Abläufe. Wir geben Kommandanten Zeit für die Kampfarbeit – statt für Papierkram. Es werde mehr Digitalisierung und Klarheit bei der Truppenversorgung geben, sagte der Oberbefehlshaber. Leider ist sein Nachname nicht der, den jeder neben einer solchen Aussage sehen wollte, sondern [der ukrainische Präsident Wolodymyr] Selenskyj." Es sei ein Verbrechen, im Krieg "Probleme zu vertuschen", so der Blogger, der wegen "Diskreditierung der Armee" verwarnt wurde: "Das führt zu einer Reihe von Folgefehlern und in der Konsequenz zu schwierigen Entscheidungen."

"Krieg verändert russische Gesellschaft"

Wie oft, wenn es außenpolitische Schwierigkeiten und Fehlschläge gibt, überträgt sich die Aggression auf die Innenpolitik. Derzeit streiten russische "Ultrapatrioten" erbittert über angeblich gewaltbereite Migranten aus Zentralasien, die den Russen nicht den nötigen Respekt entgegenbrächten: "Der Krieg veränderte die russische Gesellschaft. Die Russen sind endlich aus ihrem Dämmerzustand erwacht, in den sie die liberalen Geschäftsleute der 90er-Jahre gestürzt haben, mit dem Ziel, die Russen als Nation zu zerstören – sie trunken zu machen, zu korrumpieren, zu verderben und zu zerstören." Entweder die Russen würden wieder zu einer "großen Nation", so die Weltsicht dieser rechtsradikalen Propagandisten, oder sie gingen mit Russland unter: "Ohne Russen gibt es kein Russland. Die Russen sind der Kitt, der Russland zusammenhält. Wenn es für die Russen gut läuft, läuft es für alle gut. Der russische Unabhängigkeitskampf hat begonnen und er muss weitergehen."

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