Eine Passantin entzündet eine Kerze inmitten vieler weiterer Grabkerzen.
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Trauer in Moskau: Grabkerzen leuchten

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"Elefant im Raum": Putin mit Streit um Migration konfrontiert

Nach dem Terroranschlag bei Moskau drängen russische Nationalisten auf eine schärfere Kontrolle von Migranten. Der Kreml ist wegen des Arbeitskräftemangels dringend auf Zuwanderer angewiesen. Für Putin ein kaum lösbares propagandistisches Dilemma.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Der Druck auf den Kreml von rechts wächst erheblich. Putin sieht sich nach dem Terroranschlag bei Moskau mit heftiger Kritik aus dem Lager der Ultrapatrioten konfrontiert. Einerseits fordern sie die Wiedereinführung der Todesstrafe, andererseits eine drastische Verschärfung der Migrationspolitik. In Russland arbeiten Hunderttausende von Zuwanderern aus Zentralasien.

"Der Kreml kann nicht zugeben, dass das Problem ein unkontrollierter Zustrom von Migranten ist – Moskau würde als erstes davon betroffen sein. Wo sonst, wenn nicht in der Hauptstadt, verlegen ausländische Fachkräfte jeden Monat die Fliesen? Jeder versteht alles, aber die Behörden werden schweigen", so einer der nationalistischen Blogger. Putin habe "systematisch und über Jahrzehnte hinweg" Fehler gemacht. Der "Nährboden für eine potentielle Bedrohung" innerhalb Russlands sei quasi "staatlich lizenziert" worden.

"Hört damit auf"

"Wissen Sie, was Menschen mehr als alles andere auf der Welt irritiert? Schreiender Betrug", schrieb der russische Star-Blogger Andrej Medwedew (180.000 Fans) auf seinem Telegram-Kanal und ereiferte sich über kremlnahe Politiker, die nach dem Terroranschlag bei Moskau eilig vor einer Einschränkung der Migration warnten: "Ich flehe euch an, lasst das sein. Hört damit auf. Wir wissen alles."

Ihm und den russischen Bürgern sei vollkommen klar, dass die Terroristen ethnischen Hass in Russland säen wollten, so Medwedew, diese Befürchtung sei jedoch völlig unbegründet: "Ja, viele sind wütend, viele sind von ihren Emotionen überwältigt, aber glauben Sie mir, niemand wird unser gemeinsames Haus in Brand setzen, um sie hinauszuwerfen. Ungeachtet dessen stellen die Bürger der Regierung schwierige Fragen und wollen klare Antworten hören."

"Bedenken sind nachvollziehbar"

Diese Fragen beträfen die "seltsame Migrationspolitik". Wer diesbezüglich mehr "Ordnung" einfordere, dürfe deshalb nicht gleich als Hassprediger abgetan werden: "Es ist klar, welche Sorgen die Verantwortlichen haben: dass in dieser schwierigen Zeit manche Menschen die Nerven verlieren. Diese Bedenken sind nachvollziehbar." Trotzdem solle der Kreml kritische Bürger nicht als "unvernünftig" abtun.

Medwedew (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen russischen Ex-Präsidenten) und viele andere "ultrapatriotische" Blogger fordern seit Monaten ein Umdenken in der Migrationspolitik und bringen Zuwanderer ständig mit Kriminalität in Verbindung. Putin sind allerdings weitgehend die Hände gebunden: Russlands Bevölkerung schrumpft stark, der Arbeitskräftemangel bremst die Rüstungsindustrie. Der Kreml ist dringend auf Zuwanderer angewiesen: "Höchstwahrscheinlich werden keine grundsätzlichen, sondern Einzel-Maßnahmen ergriffen, um die Migrationspolitik zu verschärfen", so Politologe Alexej Makarkin vom russischen Zentrum für politische Technologien. Seine Begründung: Abgesehen von dringend benötigten Arbeitskräften mache die grassierende Korruption die Steuerung der Migration ohnehin unmöglich.

"Kreml ignorierte gigantische Bedrohung"

Exil-Politologe Wladimir Pastuchow glaubt nicht daran, dass Russland wegen seiner früheren militärischen Interventionen in Afghanistan und Syrien Ziel islamistischer Terroristen ist: "In all dem Trubel wird der Elefant im Raum irgendwie übersehen – das riesige und überwiegend muslimische (besonders nach Beginn des Krieges mit der Ukraine) Prekariat Russlands." Die Betroffenen seien völlig rechtlos und wegen der Korruption in der Regel "von irgendeinem Polizisten" abhängig. Der Terrorismus müsse nicht importiert werden, er werde im Inland produziert.

"Es war nicht der Inlandsgeheimdienst, der ein bestimmtes Terrornetzwerk übersah, sondern der Kreml, der eine gigantische politische Bedrohung ignorierte, indem er durch seine Politik eine ganze Gesellschaftsklasse schuf, die aufgrund ihrer besonderen, gedemütigten Sklavenrolle ein natürlicher Überträger und ein günstiges Umfeld für das Virus des Terrorismus ist", so die düstere Bilanz von Pastuchow. Die Tatsache, dass Putin entschlossen scheine, die "wirkliche" Gefahr zu übersehen und "bequemere Feinde" für alles verantwortlich zu machen, verschlimmere die Lage.

"Einfach niemand wird es glauben"

Ein weiterer Blogger äußerte die Vermutung, der Kreml habe die festgenommenen Verdächtigen aus psychologischen Gründen öffentlichkeitswirksam brutal misshandeln lassen: "Das abgeschnittene Ohr und die mit den Genitalien verbundenen Elektroschock-Drähte sollen eine seelisch entlastende Wirkung auf die Bevölkerung entfalten. Diese Bilder verlagern den Schwerpunkt der Diskussion deutlich weg von der Ineffektivität der Geheimdienste und dem Versagen in der Migrationspolitik. Das ist der einzige Zweck der Indiskretion – Sie und uns abzulenken, damit wir nicht den Kopf einschalten, sondern tierische Befriedigung aus dem Ruf 'nach Rache' erhalten."

Das Kreml-System sei so verhärtet, dass es nur noch solche gestanzten Reaktionsmuster zur Verfügung habe. Der russische Geheimdienst habe mit der anfänglichen Propagandalüge, es handle sich um bezahlte Auftragskiller, seine eigene Autorität erschüttert: "Gleichzeitig hat die Folter jede Möglichkeit zunichtegemacht, alles auf Kiew zu schieben – jetzt wird das einfach niemand mehr glauben."

Kreml will Migration "besser organisieren"

Kremlsprecher Dmitri Peskow ließ eine Frage nach der Folter der Festgenommenen ausdrücklich unbeantwortet und erklärte, es gebe über die Hintergründe des Anschlags nur "vorläufige" Ergebnisse, die Untersuchungen liefen. Zu einer Beteiligung von Islamisten könne sich der Kreml daher offiziell noch nicht äußern. Putin werde seinen Zeit- und Arbeitsplan in keiner Weise ändern. Die kremlnahe Nachrichtenagentur RIA Nowosti teilte unter Berufung auf eine Quelle im Außenministerium ohne nähere Details mit, Russland werde die Migration "besser organisieren" und beschleunigt die "Kontrolle erhöhen". Das sollte offenbar aufgebrachte Kritiker beruhigen.

Putin selbst sagte in typischer Geheimdienstmanier, zwar sei bekannt, dass islamistische Täter am Werk gewesen seien, aber ihn interessiere, wer deren Auftraggeber gewesen seien, wer davon profitiere. Russland stehe doch für eine "faire Lösung des eskalierenden Nahostkonflikts", da sei es fraglich, warum Islamisten ausgerechnet in Moskau zugeschlagen hätten. Angesichts der islamistischen Spur schien dem Präsidenten sehr unbehaglich zumute zu sein: "Das Ziel besteht darin, Panik in unserer Gesellschaft zu säen und gleichzeitig unserer eigenen Bevölkerung zu demonstrieren, dass für das Kiewer Regime noch nicht alles verloren ist."

"Dann wird sich das alles auf Russland ausbreiten"

Der Präsident der St. Petersburger Politikstiftung, Michail Winogradow, fürchtet bei einer stärkeren Abschottung des russischen Arbeitsmarkts gar um die "sozioökonomische Stabilität" des Landes und erwartet für diesen Fall höhere Preise. Politologe Konstantin Kalaschew meinte: "Die Verschärfung der Migrationspolitik wird ein reines Propaganda-Thema bleiben. Es bleibt alles beim Alten, mehr Kontrolle steht im Widerspruch zu den Interessen der Wirtschaft."

"Das Unangenehmste ist, dass die dschihadistische Bedrohung Zentralasiens voraussichtlich zunimmt. Und dann wird sich das alles auf uns in Russland ausbreiten", so Kalaschew. Der Kreml sei mit der Ukraine beschäftigt und sehe den sprichwörtlichen "Wald vor lauter Bäumen nicht". Der gern zur Ironie neigende Kolumnist bedauert, dass die russische Elite ihre geistigen Fähigkeiten derzeit lieber sorgfältig verberge, um sich nicht als "Auslandsagent" verdächtig zu machen: "Russische Propagandisten suchen weiterhin nach Anzeichen von Nationalismus im benachbarten Kasachstan, ohne zu verstehen, dass ein gesunder Nationalismus ein Gegenmittel und eine Abschreckung gegen die Ausbreitung des islamischen Radikalismus ist, der keine nationalen Grenzen kennt."

"Russland unternimmt in Afghanistan nichts"

Die Debatte ist der Hauptgrund dafür, dass der Kreml inständig hofft, irgendwelche einigermaßen glaubhaften Verbindungen der Terroristen in die Ukraine konstruieren zu können. Geradezu verzweifelt müht sich einer der redseligsten Propagandisten, "Politologe" Sergej Markow, islamistische Kreise von jedem Verdacht freizusprechen. Das sei "nur eine mögliche Version", es gebe kein Motiv: "Russland unternimmt in Afghanistan nichts. Daher stellt der IS in Afghanistan nahezu keine Ansprüche an Russland."

Mit verblüffender Offenheit erläutert Markow das zentrale Propaganda-Anliegen des Kremls: "Russlands Aufgabe besteht darin, die politische Isolation des ukrainischen Terrorregimes sicherzustellen und dabei maximal auf den Zusammenhang des Terroranschlags nicht mit ISIS, sondern mit den ukrainischen Behörden hinzuweisen. Dazu ist es notwendig, nicht nur die Verbindung zwischen Terroristen und der Ukraine aufzuzeigen, sondern auch die amerikanische Version des Terroranschlags zu zerstören."

"Dann läuft alles wie am Schnürchen"

Der rechtsextreme "Philosoph" Alexander Dugin, der als Vordenker des Kremls gilt, widmete der Migrationspolitik ein längeres Statement, in dem er forderte, jeder Einwanderer, der "nicht Teil des großen russischen Volkes" werden wolle, müsse polizeilich gemeldet und unter "besondere Kontrolle" gestellt werden. Ob Russlands Wirtschaft und Gesellschaft solche Personen überhaupt benötige, sei noch sehr die Frage. Putin müsse sich "eine Stunde seiner Präsidentschaft dem Thema in seiner ganzen Tiefe" widmen, dann laufe alles "wie am Schnürchen".

Mit eingebürgerten Migranten und Dissidenten ging Dugin besonders hart ins Gericht: "Wenn ethnische Russen sich dem Imperium, der Macht, unserem Staat widersetzen und ihn zerstören wollen – direkt oder indirekt, dann sind sie Verräter und Feinde des russischen Volkes. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie Liberale, Kommunisten oder Nationalisten sind. Dass sie Russen sind, verschlimmert ihre Situation nur."

"Ich bin Teil eines großartigen Ganzen"

Hier sei ein bedenklicher "Narzissmus" am Werk, so der kremlkritische Politologe Andrej Nikulin über derartige Pamphlete. Einmal mehr werde versucht, Menschen, "die selbst wenig Bedeutung und keinen Grund haben, auf sich stolz zu sein", ein Gefühl der inneren Zufriedenheit zu vermitteln.

Bei der Brutalität im Umgang mit den Terrorverdächtigen fühlt sich Nikulin an stalinistische Exzesse erinnert, zumal das abgeschnittene Ohr mit "Applaus" quittiert worden sei: "In einer Gruppe kann selbst der in seiner Seele unbedeutendste und unterdrückteste Mensch seinen Zustand mit folgendem Argument rechtfertigen: 'Ich bin Teil eines großartigen Ganzen in der besten Gruppe der Welt. Und obwohl ich in Wirklichkeit nur ein erbärmlicher Wurm bin, dank meiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe werde ich zum Riesen.'"

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