Schwarzweißfoto von Männern, die eine Kiste aus einer Höhle unter der Straße heben.
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18. September 1946: Das Ringelblum-Archiv wird in der Nowolipki Straße in Warschau entdeckt.

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Eine Sensation: Das Untergrund-Archiv des Warschauer Ghettos

Im Warschauer Ghetto waren bis 1943 über 400.000 Menschen unter unsäglichen Bedingungen eingesperrt. Eine kleine Gruppe dokumentierte die Vorgänge im Ghetto. Teile dieses Archivs sind ab sofort im NS-Dokumentationszentrum München zu sehen.

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Seit 1999 ist das Ringelblum-Archiv Bestandteil des Programms "Memory of the World" der UNESCO. Teile des Archivs wurden nach dem Zweiten Weltkrieg in Warschau in ihren Verstecken wiedergefunden, möglich, dass es noch mehr gibt. Emanuel Ringelblum selbst überlebte die Shoah nicht. Er wurde im März 1944 zusammen mit seiner Frau und dem zwölfjährigen Sohn Uri in den Ruinen des Warschauer Ghettos von den Deutschen ermordet. Es ging nicht nur darum, eine Chronik des Verbrechens zu erstellen, es handelt sich auch um einen Akt des Widerstands.

Die Mauern, die ab 1940 in Warschau wie Pilze aus dem Boden sprossen und Straßen abriegelten, unterteilten die Menschen noch in Optimisten und Pessimisten. Erstere glaubten an strategische Gründe, die anderen ahnten, dass es sich um die Mauern des künftigen Ghettos handelte. Angst hatten alle, notierte Marek Stok lapidar treffend in seinem Tagebuch.

Sein Memorial ist Teil des geheimen Untergrundarchivs des Warschauer Ghettos, das der Historiker Emanuel Ringelblum initiiert hat. "Über 30 Frauen und Männer, Historiker, Journalistinnen und Aktivisten haben zusammen ein Archiv angelegt", erzählt Kurator Piotr Rypson. "Sie alle waren während der deutschen Okkupation im Warschauer Ghetto eingeschlossen. Ringelblum entschied, dass die Lebensbedingungen von Juden unter deutscher Okkupation so präzise wie möglich zu dokumentieren seien. Er fing schon 1939 damit an, noch bevor das Ghetto mit Mauern abgeriegelt wurde. Ringelblum ging es um Zeugenschaft für die Zukunft. Die Geschichte sollte dabei von Juden geschrieben werden, und nicht von den Siegern."

Alltag des Holocaust

Piotr Rypson hat zusammen mit Ulla-Britta Vollhardt die Ausstellung "Wichtiger als unser Leben" im Münchener NS-Dokumentationszentrum kuratiert. Die Schau mit Dokumenten des Ringelblum-Archivs ist eine erschütternde Sensation: Sie zoomt den Alltag des Holocaust heran: Lebensmittelmarken, Aushänge, Verbote wie etwa die Benutzung eines Brausebads, Bekanntmachungen, Postkarten und Briefe, Bonbonpapier, Fotos und Testamente. "Das ist ein satirisches Album von Theofila Langnas, spätere Reich-Ranicki, die wunderbare Zeichnungen angefertigt hat" erzählt Kuratorin Ulla-Britta Vollhardt. "Und hier heißt es links 'Versorgungsabteilung', und auf der rechten Seite sieht man einen winzigen Brotlaib und darunter 'Ration für 60 Tage'." Der Hunger ist zermürbend, quälend.

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Die Ghettomauer in der Bonifraterska-Straße.

Berührend: eine der Blechschachteln, in denen die Dokumente versteckt worden waren, Armbinden aus dem Seuchenkrankenhaus, Listen der Nazis mit den Namen derer, die wegen Fluchtversuchs aus dem Ghetto erschossen worden waren, und Anweisungen an der Türklingel in den völlig überfüllten Häusern des Ghettos: Für Lurie einmal klingeln, für Rotsztajn zweimal, für Luna zweimal kurz, für Wanda zweimal lang und Familien Szlengel und Brandstetter reagieren beide auf dreimal klingeln.

Der Versuch, sich einzurichten unter den Bedingungen von Verfolgung und Massenmord. Piotr Rypson: "Das Ringelblum-Archiv ist das größte Holocaust-Archiv der Welt. Es umfasst über 34.000 Dokumente, die sie zusammengetragen und produziert haben. Die Archivare haben Tagebücher geschrieben und andere Leute gebeten, verschiedene Aspekte des Lebens im Ghetto festzuhalten: Was passiert Frauen? Wie sehen die jüdischen Straßen im Ghetto aus? Was passiert den Kindern? Sie haben beispielsweise Schulaufsätze über den Beginn und die Bedeutung des Krieges im Leben der Kinder gesammelt."

Tarnname "Oneg Schabbat"

Zeugenschaft war lebensgefährlich. "Uns war bewusst, dass wir Geschichte machten. Und das war wichtiger als unser Leben", hält der 19-jährige Dovid Gruber in seinem Testament von Juli 1942 fest. Es war der Beginn der sogenannten "Aktion Reinhard", ein Tarnname für die Vernichtung aller Juden und Roma im deutsch besetzten Polen. "In diesem Moment hat sich der Charakter des Archivs verwandelt. Es geht jetzt weniger darum, zu dokumentieren als vielmehr darum, so viel wie möglich zu erhalten: die Namen der Getöteten und den Prozess der Vernichtung selbst. Es gibt beispielsweise sehr präzise Pläne der Lager Treblinka und Kulmhof. Das Ziel: eine forensische Dokumentation."

Dafür trafen sich die Archivare so weit wie möglich unter strengster Geheimhaltung jeden Samstag. "Oneg Schabbat", "Freude am Sabbat" ist der Tarnname ihrer Archivtätigkeiten. Nach dem Krieg wurde der "Leidschatz" peu à peu in Blechkisten und zwei großen Milchkannen gefunden – ein berührendes und maßgebliches Zeugnis und Vermächtnis für die Zukunft: Das Ringelblum-Archiv lässt keinen Abstand zu. Und das gilt auch für die Ausstellung.

Die Ausstellung "Wichtiger als unser Leben – Das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos" ist bis 7. Januar 2024 im NS-Dokumentationszentrum in München zu sehen.

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