Durch Metalllamellen über dem Anstrich entsteht der Effekt fliegender Vögel, wenn man sich an dem Kunstwerk vorbeibewegt.
Bildrechte: BR/Tobias Hildebrandt

Das Werk "Locomotion" an einer Außenmauer der JVA Niederschönenfeld.

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Fliegende Vögel: Kunst am Gefängnis

Diese Kunst wird erst lebendig, wenn man mit dem Auto auf der Staatsstraße daran vorbeifährt: fliegende Vögel auf einer Außenmauer der JVA. Kunst am Bau – von einem Künstler-Trio, das für seine "Knast-Kunst" bekannt ist.

Über dieses Thema berichtet: BR24 im BR Fernsehen am .

Wer sich dieses Kunstwerk ansehen will, braucht keine Eintrittskarte ins Museum, sondern ein Auto. Martin Spengler und Felix Weinold fahren die Staatsstraße zwischen Marxheim und Niederschönenfeld im Landkreis Donau-Ries entlang, um ihre Kunst zu zeigen. Nach wenigen Augenblicken deutet Martin Spengler nach rechts aus dem Fenster: "Jetzt kann ich es schon sehen, es blinkt und bewegt sich wie ein Vogelschwarm, der an uns vorüberzieht." Felix Weinold fügt hinzu: "Es funktioniert und wir sind zufrieden!"

Kunst nach Berechnung

Denn ob nach den Modellberechnungen alles auch in der Realität funktioniert, war nicht ganz sicher bei diesem Kunst-am-Bau-Projekt. Das Werk "Locomotion" hängt statisch an der Wand eines Außenlagers des Gefängnisses in Niederschönenfeld. Wer aber mit dem Auto auf der Staatsstraße daran vorbeifährt, für den entsteht ein optischer Effekt: Ein Schwarm weißer Vögel, der scheinbar davonfliegt.

Wie der optische Effekt entsteht

In der europaweiten Ausschreibung hatten sich der Augsburger Künstler Felix Weinold sowie das Digitalkunst-Duo "Lab Binär", bestehend aus Martin Spengler und Benjamin Stechele, durchgesetzt. Zunächst planten sie vor allem am Computer, erstellten Animationen und berechneten den Effekt der fliegenden Vögel. Draußen passierte dann alles ganz analog: Schwarze Grundierung auf die graue Gefängnismauer, darauf keine fertigen Vögel pinseln, sondern nur weiße Striche in exakten Abständen zueinander – und schließlich schwarz lackierte Metalllamellen mit etwas Abstand davor montieren. Die Lamellen erinnern an Gitterstäbe im Gefängnis, aber vor allem erzielen sie den Effekt des fliegenden Vogelschwarms – aber nur, wenn man sich bewegt.

Kunstwerk als Sinnbild für Resozialisierung

In der Bewegung steckt auch der Hintergedanke der Arbeit, sagt Künstler Felix Weinold: "Unsere Idee ist: Nur wer sich bewegt, der bewegt auch was. Es bewegt sich nichts von selbst, sondern man muss etwas dafür tun und das ist durchaus auch Ziel gelingender Resozialisierung."

Auch bei der Gefängnisleitung kommt das Kunstwerk gut an, Marc Döschl sagte dem BR: "Es bereichert die Ansicht und toll ist der Bewegungseffekt, wenn man am Kunstwerk vorbeigeht. Es sieht aus jeder Position anders aus." Und noch etwas sei ihm besonders aufgefallen: Wenn man die Lamellen als Gitter interpretiere, dann flögen die Vögel ja hinter Gittern. Und das könne sinnbildlich für die Freiheiten stehen, die es auch im Gefängnisalltag gebe, vom Freigang bis zur beruflichen Ausbildung innerhalb des Strafvollzugs.

"Kunst am Bau" ist bei öffentlichen Gebäuden Pflicht

Die Kunst an der JVA ist Teil der Erweiterung des Gefängnisses. Wenn neue öffentliche Gebäude entstehen, dann bekommen darin oft auch Skulpturen oder Bilder ihren Platz. Bis zu zwei Prozent der Baukosten sollen für "Kunst am Bau" ausgegeben werden – so ist es Vorschrift. Mittlerweile haben Felix Weinold und das Duo "Lab Binär" schon mehrere der öffentlichen Ausschreibungen gewonnen – meist im Kontext der Justiz.

Regionale Projekte der Augsburger Künstler

Zum Beispiel bei einem Anbau der JVA in Kaisheim: Mit einer Kamera haben die Künstler ein Jahr lang über die Gefängnismauer fotografiert. Ein Blick, den Insassen und Mitarbeiter der JVA nicht haben. Jeden Tag automatisch ein Foto vom Blick ins Grüne auf exakt dieselbe Stelle, eine Wiese mit Wald im Hintergrund. Per Algorithmus verschmelzen 365 Fotos zu einem Bild, eine Chronik der Jahreszeiten, die am Ende zu einem analogen Mosaik verarbeitet wird.

Oder das Amtsgericht Günzburg: Eine mehrere Meter große Scheibe, die sich zufällig mal in die eine, mal in die andere Richtung dreht. Darauf Hunderte Baumarkt-Wasserwaagen statt irgendwelcher Justitia-Analogien. Durch die ständige Bewegung befinden sich nie alle im Gleichgewicht. Die Botschaft: so komplex ist faire Rechtsprechung.

Künstler: "Es geht um unser Rechtsempfinden"

Man habe sich nicht bewusst auf Kunst rund um die Justiz spezialisiert, sagt Benjamin Stechele von "Lab Binär". Nach den Erfahrungen aus den verschiedenen Arbeiten sieht er aber einen inhaltlichen Zusammenhang: "Spontan würde ich sagen: Sie haben halt alle einen sehr ernsten Hintergrund, weil es geht um uns, um uns als Gesellschaft, um unser Rechtsempfinden und darum, wie wir versuchen, Fehltritte zu verzeihen, zu bewerten. Und das ist natürlich was anderes als Love, Peace und Harmony, Klamauk, sonst irgendwas. Das hat einen sehr ernsten Hintergrund."

Niedrigschwelliger Zugang zu Kunst

Trotz des ernsten Hintergrunds haben die fliegenden Vögel auf der Gefängnismauer in Niederschönenfeld auch etwas Leichtes. Der Zugang zu dieser Form der Kunst ist sehr niedrigschwellig. Man muss eben nicht in eine Galerie fahren und Eintritt bezahlen, sondern wird zufällig mit ihr konfrontiert auf der Vorbeifahrt am Gefängnis. "Normalerweise schaut man gar nicht zu einem Gefängnis, weil es so öde ist, wie nur ein Gebäude öde sein kann. Dadurch, dass wir hier ein etwas belebtes Kunstwerk angebracht haben, ist es überhaupt eine Attraktion, dass man überhaupt mal den Blick in die Richtung wendet – und damit ist schon viel gewonnen", sagt Künstler Felix Weinold. Wer oft auf der Straße vorbeifahre, dem falle vielleicht der Schwarm Vögel auf und wer sehr oft vorbeifahre, der komme vielleicht auf die Idee, dass die Vögel in einer bestimmten Beziehung zur Freiheit oder Unfreiheit in einem Gefängnis stehen.

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